Ein Märchen in den Zeiten der Finanzkrise
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.
Heute: Über herrlich harmloses Lesen und Trinken
Lesen Sie öfter mal die Nummern auf ihren Geldscheinen? Nein? Sollten Sie aber. Wahrhaft werthaltige Textzeilen, deren Poesie ganz neue Lebensperspektiven eröffnen können. Jonas Brand zum Beispiel, von Beruf verdrossener Video-Journalist und fröhlicher Romanheld in Martin Suters neuem Bestseller „Montecristo“, liest zweimal
die gleiche Nummer auf zwei verschiedenen Scheinen, und schon wird er auf offner Straße überfallen, seine Wohnung durchwühlt, ein Freund ermordet und für Brands aussichtsarmes Kinoprojekt urplötzlich ein Millionenbudget bewilligt.
Auf den ersten Blick tut Martin Suters Krimi so, als wolle er eine realistische Geschichte erzählen über unsere finanzkriselnden Zeiten, in denen die Banken Geld drucken wie nichts Gutes. Aber auf den zweiten Blick strotzt die Geschichte vor realitätsfernen Zufällen, wie es sie nur im Märchen gibt. Also habe ich mich beim Lesen schon bald entspannt zurückgelehnt, denn Märchen gehen bekanntlich immer gut aus. Das Buch verspricht nicht mehr als ein harmloses Vergnügen und genau das liefert Suter dann auch ab. Seltsamerweise nehmen ihm das manche Literaturkritiker, die selbst zumeist ein komplett harmloses und hoffentlich vergnügtes Leben führen, gern mal übel.
Das harmloseste Getränk, das ich kenne, ist die Weißweinschorle: kostengünstig, niedriger Alkoholgehalt, anspruchslose Zutaten, leicht zu mischen. Das soll nicht verächtlich klingen. Denn an den heißen Sommerabenden, wie sie jetzt bestimmt ! sehr !! bald !!! auf uns zukuommen, ein prima Durstlöscher. Jawohl, auch die Weißweinschorle hat ihr Existenzrecht! Nur wer unter euch ohne Getränkesünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
Die Kolumne erschien im Focus vom 28. März 2015. 2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das, worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.