”Ich bin am Leben” und andere Familienpost
Für die erste vollständige Biografie Marcel Reich-Ranickis hat mir sein Sohn Andrew Ranicki über 200 Dokumente und Fotos aus privaten Alben zur Publikation anvertraut. Die Materialien haben das Bild vom Leben seiner Eltern verändert und anschaulicher gemacht. Das Buch Marcel Reich-Ranicki. Die Biographie erschien am 24. April im Blessing Verlag, München (19,99 Euro). Am 28. Mai sollen diese Materialien in der von Wolfgang Schopf und mir kuratierten Ausstellung „Sein Leben“ in Frankfurt (Dantestr. 9) zum ersten Mal öffentlich gezeigt werden. Hier möchte ich vorab zwei Telegramme von Marcel Reich-Ranicki aus dem Jahr 1945 an seine Schwester Gerda Böhm in London vorlegen.
Wie sagt man, wenn man überlebt hat? Wie schreibt man der eigenen Schwester, dass man davongekommen ist? Davongekommen nach fünf Jahren, in denen man täglich ermordet werden konnte, genauer: täglich ermordet werden sollte?
Am 26. Mai 1945 musste Marcel Reich, der später unter dem Namen Marcel Reich-Ranicki zu einem der mächtigsten Journalisten Deutschlands wurde, in Warschau eine Antwort auf diese Frage finden. Er war 24 Jahre alt.
Ein paar Tage zuvor hatten die deutschen Truppen kapituliert, der Krieg war vorbei, Hitler besiegt. Doch noch immer blieb die Kommunikation über Ländergrenzen – besser: Frontverläufe – hinweg, weitgehend dem Militär vorbehalten. Deshalb fand sich nur unter größten Schwierigkeiten eine Chance, ein Telegramm ins Ausland zu schicken. Ein erstes Lebenszeichen.
Man darf sich das Warschau von 1945 nicht als Stadt mit ein paar Kriegsschäden vorstellen. Nach dem polnischen Aufstand gegen die deutschen Besatzer im Jahr zuvor, hatten Sprengkommandos die Stadt auf Hitlers Befehl systematisch zerstört. Straßenzug um Straßenzug war in Geröllhalden verwandelt worden. Warschau galt als unbewohnbar, als buchstäblich zermalmt. Fachleute rieten, das Trümmerfeld abzutragen und die Stadt an anderem Ort neu zu errichten.
Ein winziges Foto aus diesem Jahr zeigt den jungen Marcel Reich-Ranicki in polnischer Uniform mit Freunden zwischen dem, was vom Warschauer Ghetto geblieben war: Schutt, lose Steine, ein paar Balken, ein zersplitterter Fensterrahmen.
Seine Schwester Gerda hatte es im Juli 1939 noch geschafft, zusammen mit ihrem Mann Gerhard Böhm aus Berlin nach London zu fliehen. Falls sich an ihrer Adresse in Hampstead Hill nichts geändert hatte, konnte ein Telegramm sie erreichen.
Wie schreibt man, dass man überlebt hat? Reich-Ranicki tat es so nüchtern wie möglich: „I am alive“. Dann fügte er, obwohl so viel Entsetzliches zu berichten gewesen wäre, zwei positive Nachrichten hinzu: Er sei verheiratet mit Teofila Langnas (die Ehe wird fast 69 Jahre bis zu Teofilas Tod 2011 halten), und er arbeite nun für ein Ministerium. Und bittet um rasche Antwort.
Diese Antwort Gerda Böhms an ihren Bruder ist nicht erhalten geblieben. Wohl aber ein zweites erschütterndes Telegramm Reich-Ranickis an seine Schwester, das er erst fünf Wochen später, Ende Juni 1945, abschicken konnte. Nun gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, ihr die heillosen Familiennachrichten zu ersparen. Ihre Eltern, so teilte er ihr in nur neun knappen Telegramm-Worten mit, sind im September 1942 im Vernichtungslager vergast, ihr Bruder Alexander ein Jahr später ermordet worden.
Vielleicht hat die Botschaft Gerda Böhm trotz allem nicht ganz unvorbereitet getroffen und ihr nur eine letzte traurige Gewissheit verschafft. Denn die so kurze wie sachliche Nachricht „I am alive“ hat, sobald man über sie nachzudenken beginnt, eine finstere Seite. In dem Satz „Ich bin am Leben“ musste für Reich-Ranickis Schwester bereits ein viel sagendes Schweigen über die Eltern und den Bruder anklingen. Sie wird dieses Schweigen, nach den langen Jahren ohne jede Nachricht von ihrer Familie in Polen, wohl nicht überhört haben.