Lieber HAL, künftig sage ich Sie zu Dir
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.
Heute: Lesen und Trinken in Zeiten von Big Data
1986 kaufte ich meinen ersten Laptop. Er hatte 1 MB Arbeitsspeicher. Ich nannte ihn HAL in Erinnerung an den mörderischen Rechner in Kubricks “2001“. Das fand ich lustig. Inzwischen bin ich bei HAL Nr. 9 angekommen, die Kästen sind kleiner, aber nicht harmloser geworden. Und ich habe Christoph Kucklicks Buch „Die granulare Gesellschaft“ (Ullstein, 18 Euro) gelesen. Jetzt überlege ich, HAL künftig lieber zu siezen, um mich bei ihm einzuschleimen.
Kucklick gehört, was ein großer Vorzug ist, weder zu den Dämonisierern noch zu den Verharmlosern des digitalen Umsturzes. Sein Buch zeigt Chancen der schönen neuen IT-Welt. Aber auch den Berg, ach, was sage ich: den Himalaja noch ungelöster Fragen, die durch Big Data in den nächsten paar Jahren auf Justiz, Medizin, Sozialsysteme, Demokratie und manches andere zukommen. Ein winziges Beispiel: Sollen wir demnächst noch pauschale Beiträge an die Krankenkassen zahlen, obwohl sich ziemlich exakt berechnen lässt, welche Krankheitsrisiken sich aus unserem Lebenswandel ergeben? Wenn wir unsere Risiken individuell berechnen, können wir die Idee der Solidarität begraben. Aber wäre es nicht letztlich gerechter? Ein anderes Beispiel: Kürzlich ließ Verkehrsminister Dobrindt verlauten, bis zur nächsten IAA sollte die gesetzlichen Voraussetzungen für selbstfahrende Autos geschaffen werden. Bei Kucklick kann man nachlesen, welche philosophisch-moralisch-juristischen Grundlagen geklärt sein müssten, bevor selbstfahrende Autos auf die freie Wildbahn des Straßenverkehrs entlassen werden könnten. So müsste zum Beispiel ein gesellschaftliches Einvernehmen darüber hergestellt werden, ob der Computer in Fall eines unvermeidlichen Unfalls lieber gegen einen Brückenpfeiler steuern (und also die Insanssen gefährden) oder in eine Fußgängergruppe (und also deren Leben gefährden) soll. Wie eine öffentliche Debatte über die moralphilosophischen Richtlinien einer entsprechenden Programmierung unter Leitung von Minister Dobrindt aussieht, möchte ich gerne mal erleben.
Für Bücher wie das von Kucklick braucht man einen glasklaren Kopf. Deshalb bestellte ich in meiner Berliner Lieblingsbar, Victoria mit Vornamen, eine garantiert alkoholfreie Pink Lemonade: Grapefruitsaft, Grenadine und Soda. Sehr lecker. Und HAL musste zu Hause bleiben. Sehr gut.
(Der Ullstein Verlag hat die Video-Aufzeichnung eines ebenso aufschlussreichen wie empfehlenswerten Gespräches zwischen Sascha Lobo und Christoph Kucklick bei Youtube eingestellt: https://www.youtube.com/watch?v=yhOPgWK_Irs)
Die Kolumne erschien in gekürzter Form im Focus vom 17. Januar 2015. Im Dezember 2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das, worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.