Der Marquis, der ein kleines Monster war
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.
Heute: Mythengesättigtes Lesen und Trinken
Ich gestehe, ich habe „Fifty Shades of Grey“ gelesen. Den ersten Band. Er hat mich erschüttert. Nicht sexuell, sondern weil er so miserabel geschrieben ist. Der Gedanke an den Welterfolg dieser Kitsch-Klischee-Orgie ist jedesmal wie ein Peitschenhieb.
Apropos Orgie: Ich empfehle das Original statt der literarischen Abziehbildchen von E. L. James: die philosophischpornographischen Romane des Marquis de Sade. An den kuschligen Winterabenden, als Berlin im Januar einschneite, las ich Volker Reinhardts neue, schwerst seriöse Biografie „De Sade“ (C.H.Beck, 26,95 Euro). Der Mann war ein Scheusal, das Prostituierte auspeitschte, aber ein Scheusal mit Power: Immerhin hat er als steinreicher, nahezu unantastbarer Adliger eine blitzsaubere Karriere hingelegt, die ihn über zahlreiche Zuchthäuser bis in die Irrenanstalt führte. Kann man mehr tun, um als Schriftsteller zum Mythos zu werden?
Die Lektüre weckte ein Begehren, und zwar nach einem Drink, der so mythenumwoben ist wie der Marquis: Absinth, das Getränk der Libertins und Bohémiens, zu denen sich de Sade zählte. Der stärkste, den ich kenne, ist Tabu Absinth Classic Strong. Er rühmt sich, den vollen erlaubten Thujon-Gehalt zu bieten. Ich trank ihn mit Eiswasser, das ich über Zuckerwürfel ins Glas laufen ließ, ging zu Bett und freute mich, de Sade nie begegnet zu sein.
Diese Kolumne erschien im Focus vom 10. Januar 2014.Im Dezember 2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das, worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.