Die Literatur bleibt rätselhaft
Warum haben die jungen Männern in aktuellen DDR-Familienromanen so schlechte Überlebenschancen? In wenigen Monaten sind gleich fünf Bücher erschienen, die sich zumindest in einem Punkt erstaunlich ähnlich sind: Die Mädchen kommen davon, die Jungs nur sehr viel seltener.
Es ist nicht nur bemerkenswert, wie viele Romane über DDR-Familien in jüngster Zeit erschienen sind. Noch bemerkenswerter finde ich, wie schlecht es in diesem Büchern insbesondere den Söhnen ergeht.
- In Angelika Klüssendorfs Roman Das Mädchen werden Bruder und Schwester von der trunksüchtigen Mutter zwar gleichermaßen schlecht behandelt, beschimpft, vernachlässigt oder verprügelt. Doch der Junge läuft – auf Anregung des Mädchens – gern knapp vor fahrenden Autos über die Straße, um sie zu Vollbremsungen zu zwingen. Einer der Fahrer bremst zu spät, woraufhin der Bruder den Rest des Buches geistig behindert durchzustehen hat.
- Vernachlässigt werden Bruder und Schwester auch in Julia Francks Roman: Rücken an Rücken. Doch den Jungen treibt die Kälte, mit der die Mutter beide Kinder behandelt, schließlich in den Doppel-Selbstmord mit seiner Freundin.
- In Eugen Ruges Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts werden beide Söhne der treu stalinistischen Eltern ins sowjetische Arbeitslager verbannt – und nur einer von ihnen überlebt. Die historischen Tatsachen in der Familie Ruge liegen etwas anders: Wie mir Eugen Ruge erzählte, haben sowohl sein Vater als auch sein Onkel Jahre im GuLag zugebracht, kamen aber beide davon. Doch angesichts der hohen Sterbequote in den Lagern war das in Ruges Augen für die Familie eine unfassbar glückliche Wendung. Folglich hat er, um der literarischen Glaubwürdigkeit Willen, in seinem Buch dem einen der beiden Söhne das Lebenslicht frühzeitig ausgeblasen.
- Auch André Kubiczeks Roman Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn hat unverkennbar autobiographische Züge. Hier ist ein aufrechter SED-Parteisoldat zunächst mit einem Flüchtlingsmädchen aus Laos verheiratet und hat zwei Söhne. Die Frau stirbt früh an Krebs. Eines Nachmittags achtet der ältere Bruder nicht genau genug auf den jüngeren, woraufhin der mit dem Fahrrad verunglückt – und eine geistige Behinderung davonträgt. Doch nicht für lange, denn die DDR-Medizin trägt dazu bei, ihn durch Therapie-Versuchen bald schon unter die Erde zu bringen.
- Besonders gründlich schlägt das Schicksal in Marion Braschs Familienbericht Ab jetzt ist Ruhe zu. Der stellvertretende Kulturminister Horst Brasch hat drei Söhne und eine Tochter. Seine Frau stirbt wie in Kubiczeks Roman früh an Krebs. Die drei Söhne Klaus (1980), Peter (2001) und Thomas (2001) sterben an Alkohol oder anderen Suchtstoffen und -schäden.
Zwei Unfälle mit einschneidenden geistigen Folgen, zwei krebstote Mütter, ein Doppelselbstmord und insgesamt sechs tote männliche Familiensprösslinge in nur fünf Romanen. Wenn man in Rechnung stellt, dass alle fünf Bücher zwischen September 2011 und Februar 2012 veröffentlicht wurden, ist das schon eine erstaunliche Häufung. Zudem gehen – von Ruges Onkel einmal abgesehen – alle diese Toten nicht auf das Konto der literarischen Fantasie der Autoren. Was das Ganze zu einer verdammt traurigen Angelegenheit macht.
Wie kommt es zu einer solchen literarischen Häufung? Ich habe keinen blassen Schimmer. Natürlich fällt einem sofort die suggestive Titel-Formel des erwähnten Thomas Brasch ein, der mit Blick auf die festgefahrenen ideologischen Zustände in der DDR seinen ersten Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne nannte. Vielleicht nahmen die Generationskonflikte dort, verschärft durch die diktatorischen Gesellschaftsverhältnisse, tatsächlich schneller eine tödliche Gnadenlosigkeit an.
Doch in Angelika Klüssendorfs Buch ist von den politischen Zuständen und Engstirnigkeiten des Landes fast gar nicht die Rede. In Ruges Roman gehört weder der tote noch der überlebende Bruder, als sie ins Lager verbannt werden, zur Opposition gegen Stalin. Und auch die Brüder in Kubiczeks Familiengeschichte tragen letztlich keine größeren ideologischen Streitigkeiten mit dem Vater aus.
So überzeugend Thomas Braschs Formel im ersten Moment klingt, sie trifft die Sache letztlich nicht. Andere Thesen zu dieser Häufung toter junger Männer im DDR-Familienroman aus dieser und der vergangenen Saison fallen mir aber derzeit nicht ein. Hat jemand Vorschläge? Die Literatur bleibt rätselhaft.