„Diese Frau muss aus Stahl sein!“
Vor 85 Jahren fuhr der erste Mensch mit dem Auto um die Welt: Clärenore Stinnes, Rennfahrerin und Tochter aus bestem Hause. In vielen Weltgegenden gab es keine Straßen, in Südamerika musste sie sich den Weg über Gebirgspässe freisprengen, in der Wüste stellten ihr Wegelagerer zu Pferde nach. Aufhalten ließ sie sich nicht. Am 25. Mai 1927 startete Clärenore Stinnes in Frankfurt am Main und traf erst zwei Jahre später in Berlin wieder ein. Ein Lebensabenteuer, das für sie auch zum Liebesabenteuer wurde.
Nur vier Tagen zuvor war Charles Lindbergh nach seinem Atlantikflug in Paris gelandet. Die Welt feierte ihn, und ihren Glauben an eine Technik, die das Leben besser, schöner, glücklicher machen werde. 33 Stunden hatte er gebraucht, um ein Held zu werden. Niedriger hatte auch Clärenore Stinnes ihr Ziel nicht gesteckt. Sie war 26 Jahre alt, schmächtig, aber drahtig und entschlossen, als erster Mensch mit einem Auto um die Welt zu fahren. Vor 85 Jahren, am 25. Mai 1927, stand sie in Frankfurt am Main am Start, mindestens 40.000 Kilometer, die Länge des Erdumfangs, lagen vor ihr. Sie würde Richtung Osten aufbrechen und, das hatte sie sich geschworen, von Westen aus zurückkehren.
Clärenore Stinnes war jung, aber sie war kein Backfisch. Ihr Vater, Hugo Stinnes, hatte einen der größten Industrie- und Handelskonzerne Europas geformt, und gehörte, als er 1924 starb, zu den einflussreichsten Männern des Landes. Sorgen ums Geld hatten im Leben seiner Tochter nie eine Rolle gespielt, auch nicht nachdem der Konzern 1925 unter der Führung ihrer Brüder während der Inflation zerfiel. Die Liste der Menschen, die sie im Haus ihrer Familie kennenlernte, liest sich heute wie ein Lexikon der gesellschaftlichen Elite ihrer Zeit.
Da der Vater ihr mit Anfang zwanzig noch keine führende Position in einem seiner Unternehmen anvertrauen wollte, hatte sich ihr Ehrgeiz andere Ziele gesucht. Autos waren ihre Leidenschaft. Schon mit 24 fuhr sie ihr erstes Rennen. Bald darauf war sie mit 17 Siegen Europas erfolgreichste Rennfahrerin. 1925 wurde sie zu einer Rallye eingeladen, die von St. Petersburg über Moskau und Tiflis nach Moskau zurück führte. Das noch junge sowjetische Regime wollte durch extreme Prüfungsfahrten ermitteln, welche Autotypen sich in ihrem weitgehend straßenlosen Land am besten bewährten. Clärenore Stinnes gewann auch diesen Wettbewerb in ihrer Klasse – und kam auf die Idee einer Weltumrundung.
Als moderne Abenteurerin schaute sie sich zu allererst nach Sponsoren um. Sie nahm die nötigen 100.000 Reichsmark nicht von der Familie, sondern beschaffte sie bei anderen Unternehmen wie Bosch und Aral. Außenminister Gustav Stresemann persönlich setzte sich bei etlichen Ländern für die nötigen Durchreisevisa ein und wies die deutschen Auslandsvertretungen an, sie zu unterstützen. Ihre Fahrt sollte nicht zuletzt für die Qualität deutscher Industrieprodukte werben, die seit dem Ersten Weltkrieg noch immer bei einstigen Gegnern mit Boykotten zu kämpfen hatten.
Deshalb entschied sich Clärenore Stinnes auch, zu ihrem Vorhaben in einem normalen Serienfahrzeug anzutreten. Die Frankfurter Firma Adler stellte ihr einen „Standard 6“ mit 50 PS-Motor und Dreiganggetriebe zu Verfügung. Als einzige Veränderung vom Originalzustand ließ sie zwei Liegesitze einbauen. Was es bedeutet, längere Strecken mit einem gewöhnlichen Wagen der zwanziger Jahre zu fahren, ist heute nur schwer zu ermessen. Eine Ahnung davon weht einen an, wenn man in einem Automuseum vor den schwerfälligen, kutschenartigen Gefährten jener Zeit steht.
Es war eine Expedition zu der Clärenore Stinnes aufbrach. Jenseits Westeuropas und
Nordamerikas gab es keine Infrastruktur, keine Tankstellen, ja nicht einmal Straßen. Alles lebens- und reisenotwendige Material, Proviant, Ersatzteile, Benzin musste sie in einem Begleitfahrzeug, einem Kleinlaster über den größten Teil der Strecke mitnehmen. Der Lastwagen wurde von zwei Mechanikern gefahren. Und um noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Unternehmen wecken zu können, engagierte sie zudem einen Kameramann, der ihre Weltumrundung als Dokumentarfilm festhalten sollte. Sie lernte ihn zwei Tage vor Abfahrt kennen, es war ein Schwede namens Carl-Axel Söderström.
Bereits hinter Prag ist die Kupplung des „Standard 6“ kaputt, hinter Belgrad ein Kugellager des Lasters. Skeptisch notiert Söderström in sein Tagebuch, es sehe nicht so aus, „als wenn die Autos die ganze Reise halten würden.“ Doch er hat nicht mit der Entschlossenheit und Durchsetzungskraft seiner Chefin gerechnet. Clärenore Stinnes ist keine angenehme Expeditionsleiterin. Sie treibt ihre Crew morgens gegen 5 Uhr aus den Betten und nicht selten erreichen sie das nächste Etappenziel erst gegen Mitternacht. Sie gibt sich unzugänglich, ist hochfahrend und starrköpfig, ganz unbescheidene Tochter aus herrschaftlichem Haus. Söderström hadert zumal zu Anfang oft mit ihr, aber er kann ihr seine Anerkennung nicht verwehren: „Sie muss“, notiert er, „aus Stahl gemacht sein, so wie sie alles aushält, ohne zu klagen.“
Schon in Bulgarien und dann in der Türkei gibt es außerhalb der Städte nur noch Feldwege, auf denen sie sich vorankämpfen. Noch vor Ankara wird ein Gebirgspfad so schmal, dass sich die Männer auf der Bergseite an den Laster hängen müssen, um mit ihrem Körpergewicht zu verhindern, dass er talseits in die 80 Meter tiefe Schlucht stürzt. Bereits seit Serbien werden sie von Temperaturen über 40 Grad gequält. Bei der Fahrt durch die Wüste von Damaskus nach Bagdad zeigt das Thermometer 54 Grad im Schatten – allerdings findet sich Schatten nur unter den Autos. Die Wagen sind über und über mit Wassersäcken behängt, doch das meiste davon brauchen sie für die Kühler der Motoren, nicht für sich selbst.
Beim Aufstieg zum Kaukasus vom Iran aus verirren sie sich in einer Nachtfahrt. In einem Hohlweg stürzt der Lastwagen um und kann erst mit Hilfe einiger Bauern und ihrer Ochsen wieder aufgerichtet werden. In Moskau dann scheidet der erste Mechaniker wegen eine Blinddarmentzündung aus. Sein Ersatzmann ist den Strapazen nicht gewachsen und wird bald darauf nach Hause geschickt. Inzwischen sind Stinnes und Söderström mit beiden Wagen so vertraut, dass sie auch größere Reparaturen selbst vornehmen. Doch die russischen Wege versinken im Regen, sind nur noch ein Brei aus Lehm. Immer wieder müssen sie die Autos mit Spaten, Winden und Flaschenzügen regelrecht ausgraben. Oft schaffen sie nicht mehr als zehn Kilometer pro Tag.
Noch vor dem Ural, am Fluss Sura, bei Kilometerstand 10.000 droht die Fahrt zu scheitern. Die Strömung ist reißend, die Fähre zu klein für die Wagen und die Landungsstege angefault. Der letzte verbliebene Mechaniker ist am Ende seiner Kräfte, will das Risiko der Überfahrt nicht eingehen, sondern zurück nach Deutschland. Doch Clärenore Stinnes lässt sich nicht stoppen. Unterstützt von Söderström verstärkt sie Landungsstege und Fähre notdürftig mit Baumstämmen, fährt den zwei Tonnen schweren „Standard 6“ selbst auf das floßähnliche Gefährt, tanzt mit beiden über die Wellen und erreicht glücklich das andere Ufer. Als sie danach den noch schwereren Lastwagen übersetzen will, lässt Söderström sich nicht lumpen und nimmt das Wagnis dieser Überfahrt auf sich. „Von diesem Tag an“, schreibt sie später, „wurde die Fahrt eine deutsch-schwedische, denn nur dadurch, dass Söderström aushielt, gelang es, unser Programm zu Ende zu führen.“ Der Mechaniker verließ sie bald darauf und auf den folgenden gut 30.000 Kilometer wurden die beiden nur noch von wechselnden Dolmetschern begleitet.
Kurz vor dem sibirischen Baikalsee werden die Ochsenpfade, auf denen sie sich mit Schneeketten durch den Schlamm wühlen, vollends unpassierbar. Sie schicken den Lastwagen per Zug voraus. Zweieinhalb Monate müssen sie in Irkutsk bei Temperaturen von 30 bis 40 Grad unter Null warten, bis der See zugefroren ist, dann wagen sie die Überfahrt. Auf dem See ist die Luft plötzlich wie mit fernem Geschützdonner erfüllt. Vor ihnen bricht ein halbmeterbreiter Eisspalt auf. Bremsen ist unmöglich, Clärenore Stinnes gibt Gas und der Wagen springt über den Spalt. Am anderen Ufer notiert Söderström lakonisch: „Mit heiler Haut davongekommen. Wölfe begleiten unsere Fahrt. Fräulein Stinnes bietet mir das Du an.“
Fast scheint es, als würde, je länger die Fahrt dauert, der Realitätssinn der beiden schwinden. Es scheint keine Gefahren mehr zu geben, die sie noch schrecken könnte. Selbst als man sie energisch vor berittenen Warlords in der Mongolei warnt, lassen sie sich von der Durchquerung der Wüste Gobi nicht abhalten. Tatsächlich werden sie von bewaffneten Reitertrupps verfolgt, als bei dem Laster eine Feder bricht. Mit fliegenden Händen wechseln sie die Feder und können mit knapper Not entkommen. Als sie in China eintreffen, erfahren sie, dass zur gleichen Zeit westliche Reisende überfallen und erschossen wurden.
Nachdem sie auch China trotz Bürgerkriegswirren hinter sich gebracht haben, setzen sie nach Südamerika über. Hier fahren sie von Lima über die Kordilleren an die Ostküste des Kontinents nach Buenos Aires und wieder über die Anden an die Westküste zurück. Dass es keine Straßen gibt, sind sie längst gewohnt, aber von den Gebirgsstrecken gibt es hier nicht einmal mehr Landkarten. Wie Fizzcarraldo in Werner Herzogs Film ein Schiff, so müssen sie ihren Wagen in Dschungel und Hochgebirge von Einheimischen, oder mit Flaschenzügen allein über Pässe und Steigungen bis 60 Grad zerren. Die Pfade sind oft so schmal, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als sich den Weg mit Dynamit frei zu sprengen. An manchen Tagen schaffen sie nur 150 Meter und als sie sich im August 1928 mit ihren Vorräten verrechnen, verdursten Sie um ein Haar.
Von Chile aus lassen sie sich von einem Frachter nach Los Angeles bringen. Die Durchquerung der Vereinigten Staaten gleicht einem Triumphzug. Die Straßen sind hier perfekt, fahrerische Herausforderungen gibt es für sie nicht mehr. Überall werden sie von Reportern umlagert, von Gouverneuren oder Bürgermeistern empfangen, vom Publikum gefeiert. Als Präsident Herbert Hoover Clärenore Stinnes allein nach Washington einlädt, sagt sie ab. Erst als die Einladung auf Söderström erweitert wird, besuchen sie das Weiße Haus.
Von New York aus erreichen sie per Schiff Le Havre in Frankreich. Nach zwei Jahren und einem Monat Fahrzeit treffen die beiden am 23. Juni 1929 in Berlin ein und sind für Tage die Stars der Stadt. Ihr Wagen ist 46.063 Kilometer gefahren. Zu Ehren Söderströms beschließt Clärenore Stinnes nach Stockholm weiterzufahren, wo sie Kilometer 49.244 erreichen und erneut gefeiert werden. Im Herbst kommt der Dokumentarfilm der beiden in die Kinos und Clärenore Stinnes Buch „Im Auto durch zwei Welten“ erscheint.
Mit der letzten Pointe ihrer Geschichte lässt sich das ungleiche Paar noch ein Jahr Zeit. Sie, die kleine, aber unbeugsam Tochter einer der reichsten Familien der Zeit und er, der große, etwas ungeschlachte Sohn eines schwedischen Schmieds, die sich zwei Tage vor Fahrtbeginn kennenlernten, heiraten am 20. Dezember 1930. Als wären sie ein für allemal genug gereist, ziehen sie sich nach Südschweden zurück, und bewirtschafteten gemeinsam einen Gutshof.