Annette Mingels Roman “Was alles war”

Der Roman einer echt krassen Herde

Am 27. November 2017 hatte ich das Vergnügen in Berlin die Laudatio zu halten anlässlich der Verleihung des Buchpreises 2017 der Stiftung Ravensburger Verlag an Annette Mingels für ihren Roman „Was alles war“. Es ist ein genau gearbeiteter, kluger Roman, der vor Augen führt, wie sehr sich das Verständnis von Familie in einer liberalen Gesellschaft heute verändert hat. Schon deshalb hat es mir Freude gemacht, eine Rede lang das Loblied auf dieses Buch zu singen.

Liebe Frau Hess-Maier,
sehr geehrter Herr Hauenstein,
sehr verehrte Damen und Herren,
vor allem aber: Liebe Frau Mingels,

wenn wir wissen wollen, in welcher Epoche wir leben, sollten wir gut zählen können. Früher einmal machte man es sich einfach und nannte unser Zeitalter die Moderne, der wir mit bürgerlicher Gesellschaft, individueller Freiheit und Demokratie fast alles verdanken, was unser politisches Denken bis heute prägt. Aber es ist noch nicht lange her, rund 30 oder 35 Jahre, als die Soziologen Anthony Giddens und Ulrich Beck beschrieben, wie sich diese gesellschaftlichen Grundlagen durch die Globalisierung, aber auch die Flexibilisierung der Arbeitswelt gleichermaßen zu radikalisieren und aufzulösen begannen – und nannten diese Entwicklung die Zweite Moderne. In der jüngsten Zeit beginnt nun die digitale Revolution diesen Prozess noch weiter zu beschleunigen, die Freiheiten des Einzelnen von gesellschaftlichen Zwängen scheinen immer größer, die Welt immer kleiner zu werden, aber verwirrenderweise ist gleichzeitig auch das Gegenteil richtig, denn es scheinen sich im Zugriff von Big Data sämtliche Freiheiten zu verflüchtigen und auf die Grenzenlosigkeit der Gegenwart eine neue Sehnsucht nach politischen Grenzen, Mauern, Zäunen zu antworten – was jetzt die Dritte Moderne genannt wird.

Wer heute einen Roman über unsere Gegenwart schreiben will, sollte also mindestens bis Drei zählen können. Denn man kann Geschichten von Menschen in unserer Zeit nicht erzählen, wenn man sich nicht auch ein Bild von dieser Zeit macht. Das sollte allerdings nicht das Bild der Soziologen sein, deren Geschichten immer von gesellschaftlichen Gruppen und Prozessen handeln, sondern im Roman müssen es die Bilder sein, die einzelne Figuren sich von ihrem Zeitalter machen, während diese Einzelnen zugleich von ihrem Zeitalter “gemacht” werden. Das ist klein leichtes Geschäft.

In ihrem Roman „Was alles war“ ist Annette Mingels diesem schwierigen Geschäft glanzvoll nachgegangen. Und sie hat es sich dabei alles andere als einfach gemacht. Denn sie erzählt von einigen der wichtigsten und zugleich ungreifbarsten, den prägendsten und zugleich ambivalentesten Faktoren, die ein Leben beeinflussen: Sie erzählt von dem Geflecht der Familienbindungen. Und davon, wie sich dieses Geflecht in einer dreifach gestaffelten, ersten, zweiten, dritten Moderne verändert, um das bleiben zu können, was es ist: ein Netz, das den Einzelnen wenn möglich nicht einfängt und fesselt, sondern auffängt und ihm Halt bietet.

Die Hauptfigur, von der Annette Mingels in ihrem Roman erzählt, ist eine kluge Frau. Sie heißt Susanna, erforscht als Meeresbiologin das Liebesleben der Plattwürmer, hat aber auch mit dem Liebesleben der Menschen schon ein paar Erfahrung gesammelt und kann verdammt gut bis Drei zählen. Sie könnte hier bei uns in diesem Saal sitzen, die Erkenntnisse der aktuellen Soziologie würden sie nicht überraschen, denn sie geht mit offenen Augen durch ihre Zeit und weiß sehr genau, wie tiefgreifend sich Familie in der liberalen Welt des Westens verändert hat.

Annette Mingels: "Was alles war". Roman. Knaus Verlag. 19,99 Euro

Denn Susanna ist – wie uns allen auch – in diesem Zeitalter die Freiheit der Entscheidung geschenkt worden. In Susannas Familienleben wird das besonders deutlich: Sie ist von ihren Eltern adoptiert worden, ihre Eltern haben sich also sehr bewusst für sie entschieden. Und ihre leibliche Mutter Viola hatte sich zuvor die Freiheit genommen, sie und ihre drei Geschwister zur Adoption freizugeben, weil sie, wie sie Susanna einmal schreibt, „seit jeher vor der Abhängigkeit in jeder Form zurückschreckt“. Aber damit nicht genug der Entscheidungen: Als sich Susanna in einen jungen Witwer namens Henryk mit zwei kleinen Töchtern verliebt, steht sie vor der Entscheidung nicht nur für oder gegen eine Ehe, sondern zugleich vor der für oder gegen eine Patchwork-Mutterschaft. Und die modernen Verhütungsmittel verschaffen ihr die Möglichkeit, sich für oder gegen ein drittes, gemeinsames Kind mit ihrem Mann zu entscheiden, um das familiäre Patchwork noch ein wenig bunter zu machen. Und als Henryk den lang ersehnten Ruf erhält, als Professor an einer Universität zu unterrichten, die aber unglücklicherweise fernab von jedem meeresbiologischen Institut liegt, ermöglicht Susanna das moderne Scheidungsrecht sich frei zu entscheiden zwischen ihrer beruflichen Selbstständigkeit als Alleinerziehende in ihrer vertrauten Küstenstadt  oder dem Leben als einer Fernpendler-Mutter und -Wissenschaftlerin  oder eben auch als Ehefrau, die ihre persönlichen Berufschancen eintauscht gegen die traditionelle Familienbindung.

Doch spätestens bei dem letztgenannten Entscheidungsszenario wird überdeutlich, wie zynisch es ist, noch von der Freiheit zur Entscheidung zu sprechen, obwohl es sich doch unverkennbar um einen Entscheidungszwang handelt, der die Heldin Susanna, gleichgültig wie sie sich entscheidet, zu zerreißen droht. Denn das macht die Schattenseite jener umfassenden Liberalisierungen aus, vor die wir uns durch die Entwicklungslogik der modernen Gesellschaft gestellt sehen: Sie befreit uns von lauter überkommenen sozialen Zwängen, um uns im Gegenzug vor den Zwang zu unseren ganz persönlichen Entscheidungen zu stellen, die dann unsere Verantwortung ausmachen.

Zu dem Großartigen an Annette Mingels Roman gehört, dass er diese Dialektik der gewachsenen Freiheiten nicht beklagt, denn wer würde sich schon die angeblich so guten alten Zeiten der Unfreiheit zurückwünschen. Nein, der Roman klagt nicht über die neuen Freiheiten, sondern er beobachtet und beschreibt ihre Auswirkungen mit großer psychologischer Einfühlungskraft. Ihre kluge Heldin Susanna erlebt den permanenten Entscheidungszwang, vor den sie sich gestellt sieht, nämlich zugleich als einen Bewusstmacher, der sie dazu anhält, sich alle Möglichkeiten, Chancen, Alternativen in ihrem Leben sehr genau vor Augen zu führen, bevor sie sich entscheidet. Niemand wird behaupten, das wäre leicht, aber es sorgt doch auch dafür, das sie intensiver und eben bewusster lebt. Es ist keine Konvention, kein blindes Schicksal und auch nicht die Diktatur der Mutterschaft, die sie an ihre Ehe und Familie fesseln, sondern es ist die Wahl, die sie selbst für sich trifft.

Natürlich geht es in diesem Roman nicht um Susanna allein, das macht ja den Reiz eines Familienromans aus, dass die Entscheidungen jeder einzelnen Figur immer auch abhängig sind und zurückwirken auf die Entscheidungen anderer Figuren. Doch der Versuch zu zeigen, mit welchem erzählerischen Geschick Annette Mingels auch die anderen Figuren ihrer Geschichte mit ihren jeweiligen Wahlzwängen konfrontiert, führte hier zu weit. Beeindruckend ist auch, wie sie ihre Heldin Susanna zwischenzeitlich in der Vielzahl von Rollen, denen sie als Wissenschaftlerin, Ehefrau, Mutter und zugleich auch noch als Tochter eines sterbenden Vaters gerecht werden muss, an die Grenze ihrer Kräfte führt – und noch ein gutes Stück über diese Grenze hinaus, wo sich Susanna dann so gründlich selbst verliert, dass von ihr nicht mehr aus der Ich-Perspektive erzählt werden kann, sondern nur noch aus einer distanzierten Außenperspektive.

Annette Mingels Foto: (c) Hendrik Lüders

Aber auch das ist noch nicht alles, was in diesem Roman steckt. All das klingt nach einer sehr ernsten, sehr gewichtigen Geschichte, die hier erzählt wird, und das ist auch richtig so. Aber Annette Mingels versteht es zugleich, die wunderbaren kleinen Unvernünftigkeiten und Irrtümer ihrer Figuren mit Ironie anklingen zu lassen. Dutzendfach entdecken sie Familienähnlichkeiten zwischen Menschen, zwischen denen es zumindest aus biologischen Gründen gar keine Familienähnlichkeiten geben kann. Und als sich Susanna schließlich nach dem Tod ihres Adoptivvaters auf die Suche macht nach ihrem biologischen Vater, der von ihrer Geburt nie etwas erfahren hat, entdeckt sie genetische Zusammenhänge, über die ich hier lieber nichts verraten will, um niemanden, der den Roman noch nicht gelesen hat, eine Schlusspointe vorwegzunehmen.

Aber ich glaube, dass in diesen ironischen Momenten des Romans zugleich ein großes Stück Weisheit liegt.  Es gibt einen, wie ich finde: sehr philosophischen Film über eine Adoption, der vor einigen Jahren in historischer Verkleidung von unserer modernen Erfahrung erzählte, dass Familie heute nicht mehr unbedingt in dem Fundament der gemeinsamen Gene wurzelt, sondern auch auf der Grundlage gemeinsamer Entscheidungen sich entwickeln kann. Es ist ein Trickfilm, heute nennt man so etwas einen Animationsfilm, und ich habe ihn gemeinsam mit meinen damals noch recht kleinen Söhnen angeschaut. Er heißt „Ice Age“, spielt in einer sehr frühen Steinzeit, und handelt von einem einsamen Mammut, einem Säbelzahntiger mit Altersproblemen und einem vorlauten, ein wenig dummen Riesenfaultier namens Sid. Die drei sind von der Natur offenkundig nicht füreinander bestimmt, aber sie haben sich entschieden, zusammen zu bleiben, und sie fahren gut damit, da sich ihre Stärken und Schwächen vorteilhaft ergänzen – und außerdem adoptieren sie vorübergehend einen verlorenen Menschensäugling, um ihn zurückzubringen zu seinen Eltern. Nachdem viele Abenteuer bestanden, der Säugling beim glücklichen Vater abgegeben und die Steinzeitwelt wieder in Ordnung ist, wendet sich Sid, das Riesenfaultier vom Stamme der Shakespearischen Narren an seine beiden Begleiter und meint: „Also, ich weiß nicht, wie ihr darüber denkt, aber wir sind die krasseste Herde, die ich kenne.“

Tja, und vermutlich geht es einfach darum, nicht nur beim Zusammenleben von Mammut, Tiger und Faultier, sondern auch bei Susanna, Henryk, Henryks beiden Töchtern und ihrem gemeinsamen Sohn, dass sie bei all den Unterschieden, die sie trennen, und den aufreibenden Entscheidungs-Abenteuern, die ihnen die Moderne abverlangt, dennoch immer wieder mal zu der Überzeugung kommen, hey, wir sind die krasseste Herde, die wir kennen.

Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Geduld, und liebe Frau Mingels, ich gratuliere ihnen zu ihrem großartigen Roman „Was alles war“ und beglückwünsche Sie sehr herzlich zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag 2017.

 

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