Buch&Bar 52: Henry James “Daisy Miller”

Der kolossale Mut der braven Daisy Miller

Heute: Über schwerst geschichtsbewusstes Lesen und Trinken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Henry James: "Daisy Miller". Erzählung. Neu übersetzt von Britta Mümmler. dtv. 14,90 Euro

Zu Weihnachten brachte uns meine Mutter Fotos ihrer beiden Großmütter mit: Gepflegte ältere Damen, geboren so um 1870, mit hochgestecktem Haar, Rüschenkleidern und sanftem Lächeln. Unsere Jungs waren von den Socken, zückten ihre Handys und machten Fotos von den Fotos. Mit einem Mal saß ein winziges Stück 19. Jahrhundert ganz familiär mit am Tisch.

Da fiel mir Daisy Miller ein, die Titelheldin der fabelhaften Erzählung von Henry James (neu übersetzt von Britta Mümmler, dtv, 14,90 Euro). Sie ist Amerikanerin und ungefähr zur gleichen Zeit geboren wie die zwei zauberhaften Preußinnen auf den Fotos meiner Mutter. Als mutige und freche junge Frau glaubt Daisy, auf die engstirnigen Sitten ihrer Zeit pfeifen zu können und geht zu oft mit einem strahlend schönen Italiener aus. Nur aus, nicht ins Bett! Aber das allein reicht schon, um ihr Leben restlos zu ruinieren. Eine bittere Geschichte aus der heute so vielgelobten Epoche des Bürgertums.

Heute, im Zeitalter von Tinder und C-Date, klingt das, als stamme die Geschichte direkt aus dem Neolithikum. Aber so lange ist das alles gar nicht her, wäre der Zweite Weltkrieg nicht dazwischengekommen, hätte ich vielleicht noch auf dem Arm meiner anmutig berüschten Ahninnen in die Windeln machen können. Ihnen zu Ehren habe ich dann einen Sneaky Grandma gemixt: zu gleichen Teilen Rye Whisky, Amaretto, kräftigen Rotwein, Orangen- und Zitronensaft. Dazu etwas frisch geriebenen Zimt. Das gab dem Cocktail noch so eine weihnachtliche Note.

 

2014 startete BUCH & BAR im Focus. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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