Wie man Kneipen wichtig macht und Schlösser blass
Ein Ort, von dem keine Geschichte erzählt wird, ist oft banal. Orte aber, über die wir Geschichten von Schriftstellern hören, also von sauguten Erzählern, nehmen sehr schnell eine besondere Ausstrahlungskraft an. – Ein Ausflug nach Cornwall zu Daniel Defoe, D. H. Lawrence und Edward St Aubyn
Wie gründlich sich ein realer Ort verwandeln kann, sobald ihm in der Literaturgeschichte eine wichtige Rolle zugeteilt wird, wurde mir jetzt wieder mal in Bristol klar. Die Kneipe The Llandoger Trow in der King Street schien mir zunächst ein ganz normaler alter
englischer Pub zu sein, bis der Wirt behauptete, in seinem Lokal habe Daniel Dafoe den Matrosen Alexander Selkirk getroffen, der Dafoe von den Jahren zwischen 1704 und 1709 berichtete, die er allein auf einer unbewohnten Insel vor Chile überlebte – was Dafoe zu seinem Roman Robinson Crusoe (1719) anregte. Da auch der DuMont-Reiseführer Cornwall & Südengland das Gleiche behauptete, beschloss ich, dem Wirt zu glauben. Prompt nahm der Pub für mich spürbare literarische Ausstrahlungskraft an und füllte sich mit Bedeutsamkeit: Literaturhistorisch geweihter Boden auf dem ich stand. Wie gern hätte ich gelauscht, was hier vor knapp 300 Jahren beim Bier besprochen wurde.
Wissenschaftlichen Quellen sprechen allerdings davon, dass Selkirks Schicksal bereits 1713 in einem Zeitschriftenartikel von Richard Steele beschrieben wurde. Dieser Artikel in The Englishman gilt allgemein als Hauptanregung für Defoe. Gut möglich. Aber was solls, Dafoe kann sich ja dennoch mit Selkirk im Llandoger Trow getroffen haben, um sich von ihm alles noch einmal aus erster Hand berichten zu lassen.
Ganz ähnlich ging es mir dann in Zennor, einem Dörfchen im Norden Cornwalls. Gott und die D.H.Lawrence-Kenner mögen es mir verzeihen, aber ich war mir zunächst nicht darüber klar, dass Lawrence während des Ersten Weltkriegs hier gelebt und gearbeitet hat. 1917 musste er Zennor verlassen, weil man ihn – der mit der Deutschen Frieda von Richthofen verheiratet war – verdächtigte, für die Deutschen zu spionieren. Da Lawrence regelrecht mit Polizeigewalt aus seinem Haus entfernt wurde, habe ich ein gewisses Verständnis dafür, dass er nicht sehr gut auf seine Nachbarn in Cornwall zu sprechen war: “I don’t like these people. They have got the souls of insects.”
Allerdings sollte man wohl auch diesen Fall besser von zwei Seiten aus betrachten. Michael Williams ist in seiner verdiensvollen Broschüre Writers in Cornwall (Redruth 2010) der Sache gründlicher nachgegangen und hat in Zennors zentralem Kommunikationsort, im Pub Tinner’s Arms, unter Zeitzeugen am Tresen Forschungsergebnisse zusammengetragen: “Talking with two local men at The Tinner’s Arts, one said ‘Lawrence may have been what they call an intellectuel but he was an idiot, an odd man with a red beard coming into this pub, during the 1914-18 war, with his German wife. Young Cornishmen dying on the battlefields in France and they’d come in … the pair of them singing German songs and criticising the David Lloyd George gouverment.’
‘And it wasn’t only that,’ said the other Cornishman. ‘He had this passion for Zennor farmer William Henry Hockin. You can imagine what the Methodists thought about that.’”
Die Dinge liegen also auch in diesem Fall nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint – obwohl sangesfreudige englische Ehemänner mit deutscher Frauen und gelegentlichen homosexuellen Neigungen naturgemäß nicht unbedingt der Spionage verdächtig sind. Gleichwohl nahm die literarische Aura von Tinner’s Arms merklich zu, nachdem ich diese Informationen hatte. Beim ersten Besuch schien es noch eine rundum freundliche, aber nicht weiter bemerkenswerte, typisch englische Lokalität zu sein – mit einem sehr angenehmen Birnen-Cidre namens Rattlers.
Bei meinem zweiten Besuch dagegen und nach dem ich durch Michael Williams Studien gründlich belehrt worden war, wirkte der Ort plötzlich viel wichtiger, fast so als wären hier biographische Geheimnisse und fatale erotische Verstrickungen auf immer geborgen, von denen ich kurz zuvor noch nicht einmal etwas ahnte. Sobald man eine Geschichte über einen Theke erzählen kann, wirkt sie mit einem Mal bedeutend, auch wenn sie sich zuvor so biernass ausnahm wie jede andere Theke auch.
Die Gegenprobe konnte ich dann ganz ungezwungen auf der gleichen Reise machen. Wir besuchten St Michael’s Mount im Süden Cormwalls. Es ist eine Art englisches Pendent zum französischen Mont-Saint-Michel: Eine Insel, die bei Ebbe zu Fuß zu erreichen ist, bei Flut aber nur per Schiff. Auf St Michael’s Mount gab es zunächst ein Kloster. Nach dessen Auflösung durch Heinrich VIII. kaufte Colonel St Aubyn 1659 die Insel und ließ das Kloster in ein Herrenhaus umbauen. Seither ist sie kontinuierlich in Familienbesitz, die St Aubyns gehören zu den vom Schicksal materiell verwöhnten Familien des Landes. Auch deren derzeitiges Oberhaupt John St Aubyn wird im Allgemeinen als erfolgreicher Geschäftsmann bezeichnet, der zwar die Insel inzwischen an den National Trust abgetreten habe, aber selbstverständlich nicht aus finanzieller Not, neinnein, sondern nur um deren Zukunft zu sichern.
Aber wie auch immer es sich mit diesen pekuniären Dingen verhalten mag, mein Interesse an St Michael’s Mount war sofort geweckt durch den Namen St Aubyn. Ich war fest davon überzeugt, den realen Boden jener Familiendramen zu betreten, an denen Edward St Aubyn seine Leser in seiner Some Hope-Trilogie teilhaben lässt. Das Herrenhaus, meinem Empfinden nach ein veritables Schloss, erwies sich dann als angemessen düsteres Gemäuer, so dass ich in diese Umgebung die übelsten Übergriffe von Vater St Aubyn auf Sohn Edward nicht nur für möglich, sondern geradezu für unvermeidlich hielt.
Ein Gespräch mit einem Herren des Ausstellungspersonals belehrte mich allerdings darüber, dass der Schlossherr kinderlos und die Familie St Aubyn weitverzweigt sei. Ja, gewiss, sagte er, gelegentlich habe er von einen Autor mit Namen St Aubyn gehört, der sich vom lokalen Fernsehen mit dem Schloss im Rücken habe filmen lassen. Doch diese Herr habe, dass könne er mir garantieren, mit der Besitzerfamilie des Herrenhauses nichts zu tun.
Woraufhin Schloss und Insel umgehend jede Menge Ausstrahlungskraft einbüßten – und plötzlich lange nicht mehr so düster wirkten. Ein Ort, von dem es keine Geschichte zu erzählen gibt, zumindest keine literarisch ausgefeilte und wirkungsvolle Geschichte, ist eben ganz einfach nur ein Ort – und nicht selten ein ziemlich blasser. Selbst wenn es ein Schloss ist.