Kleine Nachlieferung zur Biographie “Marcel Reich-Ranicki”

Günter Grass, Reich-Ranicki und der Regenschirm-Mord

Heute erreichte mich eine Zuschrift eines Lesers zu einem Kapitel meiner Biographie Marcel Reich-Ranicki, das sich mit dem Verhältnis zwischen Günter Grass und Reich-Ranicki beschäftigt. Diese Zuschrift ist wohlinformiert und verlangt eine kleine Nachbesserung zu meinem Buch – die ich hiermit liefern möchte:

Im Buch berichte ich von dem Gespräch, das ich am 8. Juli 2004 mit Günter Grass über Reich-Ranicki führte und auf Tonband aufnahm. Unter anderem bat ich Grass, mir von seiner ersten Begegnung mit Reich-Ranicki 1958 in Warschau zu erzählen. Beide Beteiligte waren damals noch weitgehend unbekannt: Grass hatte einen ersten Lyrikband Die Vorzüge der Windhühner (1956) veröffentlicht und arbeitete an der Blechtrommel, die 1959 erscheinen sollte. Reich-Ranicki hatte 1958 zwar schon acht Jahre als Kritiker in Polen gearbeitet. Doch im Westen war sein Name als Kenner vornehmlich der deutschen Literatur bislang nur wenigen Fachleuten ein Begriff.

Schon dieses erste Aufeinandertreffen der beiden selbstbewussten und streitlustigen Männer verlief nicht spannungsfrei. Reich-Ranicki wollte offenbar ausschließlich über Literatur reden. Grass hatte keine große Lust, sich einem “Verhör” über literarische Themen zu unterziehen und reagierte “frech” auf die hartnäckigen Fragen Reich-Ranickis. Beide merkten, dass sie wenig Freude an dem Gespräch hatten und kürzten das Treffen ab. Also schrieb ich in meiner Biographie unter anderem:

“Wenig später hätten sich die beiden getrennt – doch Grass habe, erzählt er weiter, kurz darauf einen Anruf jenes Freundes erhalten, der den Kontakt zu Reich-Ranicki hergestellt hatte und der ihn nun am Telefon konsterniert fragte: ‘Was hast Du denn mit dem Ranicki angestellt? Der hat mich eben angerufen und hat gesagt: Pass auf, das ist kein deutscher Schriftsteller, das ist ein bulgarischer Agent.’ Und bulgarische Agenten hatten zu jener Zeit einen sehr speziellen Ruf, denn kurz zuvor hatten Angehörige des bulgarischen Geheimdienstes in London mit einem Regenschirm, dessen Spitze vergiftet war, einen Mord begangen, der weltweites Aufsehen erregt.”

Diese Stelle fiel Mark Schultheiß auf und er schickte mir dazu eine Email in der es unter anderem heißt:

“Das Regenschirmattentat fand jedoch 1978 statt, die Begegnung zwischen Grass und Reich-Ranicki glatte 20 Jahre früher. Ob der Ruf des ‘bulgarischen Agenten/Partisans’ nicht aus der Kombination einer gewissen bäurischen Rückständigkeit des damaligen Bulgarien sowie dessen extrem devoter Haltung gg. der UdSSR, die in den anderen Ostautokratien so massiv nicht stattfand, gerade in Polen nicht, zu Stande kam?”

Tatschächlich hat, wie ich per Google schnell feststellen konnte, Mark Schultheiß recht und der berühmte Regenschirmmord 1978 in London stattgefunden. Inzwischen gilt er als aufgeklärt. Er wurde am 7. September 1978 vom bulgarischen Geheimdienst mit Unterstützung des sowjetischen KGB verübt. Das Opfer war Georgi Markow, ein regimekritischer Autor und Emigrant aus Bulgarien, der in London für die BBC arbeitete. Der bulgarische Staats- und Parteichef Todor Schiwkow fühlte sich durch satirischen Bemerkungen Markows buchstäblich tödlich beleidigt und gab den Mord in Auftrag. Markow wurde auf offener Straße durch die mit einer Giftkugel präparierte Regenschirmspitze an der Wade geringfügig verletzt und starb wenige Tage später am 11. September 1978.

Hier ein Link zu einem Artikel, der den Regenschirmmord von 1978 ausführlich schildert:

http://www.sueddeutsche.de/politik/mysterioeser-regenschirmmord-aufgeklaert-gift-direkt-vom-diktator-1.587790

Und hier der entsprechende Wikibedia-Beitrag:

http://de.wikipedia.org/wiki/Regenschirmattentat

Nachdem ich die Mail von Mark Schultheiß gelesen und mich per Google über die Vorgängen von 1978 informiert hatte, hörte ich mir noch einmal das Tonband mit meinem Gespräch mit Günter Grass vom 8. Juli 2004 an. Als er die Begegnung mit Reich-Ranicki 1958 geschildert und den Satz “Pass auf, das ist kein deutscher Schriftsteller, das ist ein bulgarischer Agent” zitiert hatte, fährt er fort:

“Nun muss man wissen (…) zu der Zeit waren bulgarische Agenten sehr aktuell. Das waren diejenigen. die in London mit einer vergifteten Regenspitze einen anderen ermordet hatten. Der berühmte Regenschirmmord, der in London spielte. Also der ‘bulgarische Agent’ hatte eine besondere Bedeutung.”

Grass’ (zeitlich verschobene) Erinnerungen an diesen Mord hatten mich beim Schreiben der Biographie beeindruckt, doch die Sätze von Grass waren im Wortlaut nicht gut wörtlich zitierbar, also machte ich daraus einen kommentierenden Nachsatz. Besser wäre es gewesen, Grass’ Angaben  genau zu überprüfen. Schriftsteller sind phantasiebegabe Menschen, die sich von ihren Assoziationen und Erinnerungen gelegentlich mal über die Grenzen der reinen Faktentreue hinaustragen lassen.

Doch an der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Reich-Ranicki und Grass ändert sich meines Erachtens durch die (von mir übernommene) historisch verschobene Zuordnung von Grass nichts. Die beiden Männer hatten vom ersten Moment an eine spannungsvolle Beziehung zu einander, die von starke Konkurrenzgefühlen geprägt war. Das herauszuarbeiten und zu beschreiben, war meine Absicht in diesem kurzen Kapitel der Biographie.

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