Marcel Reich-Ranicki

»Näher kann der Tod nicht kommen«

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki spricht über seine Angst vor dem Sterben, darüber, warum er nicht an das Jenseits glaubt und was ihm das Wichtigste war in seinem Leben

Marcel Reich-Ranicki sitzt in seinem Wohnzimmer in einem hohen schwarzen Sessel. Hinter seinem Rücken ragt eine Bücherwand auf, die inzwischen halb Deutschland kennt aus den Fernsehinterviews mit ihm. Sakine, seine Haushälterin, hat uns Wasser gebracht und von Tosia Reich-Ranicki erzählt, die sie vor deren Tod im April 2011 hingebungsvoll betreute. Dann geht sie und schließt die Tür.

Uwe Wittstock: Herr Reich-Ranicki, vor mehr als einem Jahr starb Ihre Frau. Sie waren fast 70 Jahre verheiratet. Ist Ihnen der Gedanke an den Tod seither näher gekommen?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Wenn man wie ich über 90 Jahre alt ist, steht einem der Tod immerzu vor Augen. Noch näher kann er nicht kommen. Natürlich fehlt mir meine Frau, sie fehlt mir jeden Tag, jeden Augenblick. Es ist, als wäre ein Körperteil abgeschnitten.

Wittstock: Haben Sie Angst vor dem Tod?

Marcel Reich-Ranicki: Ja, sehr. Aber die Formulierung der Frage missfällt mir. Ich fürchte nicht den Tod. Ich habe Angst vor dem Nicht-mehr Existieren.

Wittstock: Sie waren im Warschauer Ghetto als junger Mann stärker mit dem Tod konfrontiert als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Hat das Ihre Einstellung zum Tod verändert?

Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens" Biographie. Pantheon Verlag. 287 Seiten, 11,90 Euro

Marcel Reich-Ranicki: Der Tod war eine reale Erfahrung im Ghetto. Wenn meine Frau und ich morgens aus dem Haus gingen, mussten wir über Leichen steigen, die auf den Straßen lagen. Sie wurden in offenen Holzkarren abgeholt. Tosia und ich lernten uns mit 19 kennen an dem Tag, an dem sich Tosias Vater im Ghetto an seinem Hosengürtel erhängt hatte. Er lag tot im Nebenzimmer. Tosia hatte ihn erst Minuten vorher entdeckt. Zwei Jahre später mussten wir uns von meinen Eltern Helene und David trennen, als sie aus dem Ghetto abtransportiert wurden. Wenige Tage darauf hörten Tosia und ich, dass sie in den Gaskammern von Treblinka ermordet worden waren. Der Tod ist für mich so etwas sehr Reales geworden.

Wittstock: Der Tod gehört zu den wichtigsten Themen der Literatur. Was kann man aus der Literatur über den Tod lernen?

Marcel Reich-Ranicki: Einem wirklichen Schriftsteller kann es gelingen, uns an den Tod zu erinnern. An unseren ganz persönlichen Tod. Jeder weiß, dass das Leben irgendwann endet. Aber selten machen wir uns klar, dass wir selbst es sind, die sterben werden. Während die Welt ungerührt weiterexistiert. Literatur öffnet uns manchmal für Momente die Augen für diese Wahrheit, vor der wir sie sonst zumeist schließen.

Wittstock: Hilft Ihnen die Literatur, um mit dem Gedanken an den eigenen Tod fertigzuwerden?

Marcel Reich-Ranicki: Mit dem Gedanken an den Tod kann man nicht fertigwerden. Er ist völlig sinnlos und vernichtend. Die Literatur hilft vielleicht dabei, sich das unvermeidliche Ende des Lebens bewusst zu machen. Aber damit fertigwerden? Es gibt Menschen, die sich selbst töten, wie Kleist, Tucholsky, Hemingway. Sie wollen nicht mehr leben. Aber ich bezweifle, dass sie mit dem Tod fertiggeworden sind. Sich mit dem Tod auszusöhnen ist unmöglich. Selbstmörder wählen den Tod, weil er für sie das kleinere Übel ist als ein unerträgliches Dasein.

Wittstock: Gibt es ein Buch über den Tod, das Sie besonders beeindruckt hat?

Marcel Reich-Ranicki:Viele große Schriftsteller erzählen vom Sterben. Stark berührt hat mich das Buch Der Tod des Iwan Iljitsch von Leo Tolstoi. Es ist kein Roman, sondern eine lange Erzählung. Aber wie Tolstoi darin die Gedanken eines Menschen einfängt, der tödlich erkrankt ist, eines Menschen, der nicht glauben will und kann, dass er selbst mit all seinen Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen sterben muss und dabei alles zerstört wird, was ihn ausmacht, das ist grandios. Tolstoi konnte die Seele, die Psyche des Menschen so genau beschreiben wie kaum ein anderer Schriftsteller. Er zeigt die Angst seines Helden Iwan Iljitsch, seine hilflose Wut, seine Ungläubigkeit, als er erfährt, dass er todkrank ist. Am Schluss beschreibt er, wie in einem drei Tage dauernden Todeskampf das Leben aus Iwan Iljitsch langsam und unaufhaltsam förmlich herausgepresst wird. Ein ungeheuerliches, unvergleichliches Buch.

Wittstock: Gibt es etwas, das über den eigenen Tod hinwegtrösten kann?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Es gibt nichts.

Wittstock: Wie stellen Sie sich das Jenseits vor?

Marcel Reich-Ranicki: Es gibt kein Jenseits. Es gibt kein Leben nach dem Tod. Also hat es auch keinen Sinn, sich das Jenseits auszumalen. Der Tod ist der Schlusspunkt.

Wittstock: Es gibt viele Beschreibungen des Jenseits in der Literatur: Dantes Göttliche Komödie oder Sartres Geschlossene Gesellschaft. Sibylle Lewitscharoff entwirft in ihren Romanen immer wieder Jenseits-Landschaften, in denen sich Tote bewegen.

Marcel Reich-Ranicki: Jetzt bringen Sie bitte nicht alles durcheinander: Die Göttliche Komödie stammt aus dem 14. Jahrhundert. Dante verwandelte hier Theologie in Literatur. Ob er wirklich an ein Jenseits geglaubt hat, steht auf einem anderen Blatt. Für Sartre war die Geschlossene Gesellschaft ein Gedankenspiel: Er wollte bestimmte philosophische Ideen in literarische Bilder umsetzen. Mit dem Glauben an ein Jenseits hat das nichts zu tun. Und wenn eine Autorin wie Sibylle Lewitscharoff heute glaubt, darüber schreiben zu müssen, wie es den Toten im Jenseits ergeht, dann ist das die Sache dieser Autorin. Ich möchte das nicht lesen.

Wittstock: Sie sind kein religiöser Mensch. Viele Religionen versprechen ein Weiterleben nach dem Tod. Würden Sie gern in einer Religion Trost finden?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Es gibt kein Weiterleben nach dem Tod. Das ist Wunschdenken. Marx nannte Religion Opium fürs Volk. Es ist wichtig, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Auch wenn mir nicht gefällt, was ich sehe. Es hat keinen Sinn, sich selbst zu betrügen. Religion ist wie eine Brille, die den Blick auf die Wirklichkeit trübt, die bittere Realitäten hinter einem milden Schleier verschwinden lässt. Deshalb wehren sich die Anhänger der Religionen auch so vehement, diese Brille jemals abzusetzen. Aber für mich ist das nichts. Selbst im Ghetto habe ich versucht, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und mir nichts vorzumachen.

Wittstock: Was tun Sie, um mit dem Gedanken an den Tod fertigzuwerden?

Marcel Reich-Ranicki: Man wird mit dem Gedanken an den Tod nicht fertig. Darüber sprachen wir schon. Der Gedanke daran ist eine Qual, daran ist nichts zu ändern.

Wittstock:Sie sind jetzt 92 Jahre alt. Wenn Sie Resümee ziehen, was war Ihnen das Wichtigste in Ihrem Leben?

Marcel Reich-Ranicki: Die Liebe, die Literatur, die Musik, meine Familie, meine Frau. Nicht immer in dieser Reihenfolge. Mal war das eine wichtiger für mich, mal das andere. So etwas wechselt, je nachdem in welcher Situation man ist.

Wittstock: Gibt es etwas, was Sie in Ihrem Leben versäumt haben?

Marcel Reich-Ranicki: Es gibt immer etwas, das man versäumt hat. Zumal in sexueller Hinsicht.

Wittstock: Gibt es etwas, das Sie gern noch tun möchten?

Marcel Reich-Ranicki: (Lange Pause) Vor allen Dingen möchte ich noch möglichst lange Zeit etwas tun können. Ich habe einmal gesagt, was mich am Tod vor allem schreckt, ist die Gewissheit, nicht mehr die Zeitungen des nächsten Tages lesen zu können. Ich möchte gern erfahren, wie es weitergeht. Ich möchte dabei sein. Ich will immer wieder die nächste Zeitung lesen. Aber das geht nicht, irgendwann ist Schluss.

Wittstock: Das Alter hat eine Menge Nachteile, das ist eine banale Feststellung. Aber hat das Alter aus Ihrer Sicht auch Vorteile?

Marcel Reich-Ranicki: Lassen Sie sich nichts erzählen von Altersweisheit oder Altersmilde. Das ist sentimentales Geschwätz. Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war, alles, worauf man glaubte, sich verlassen zu können. Philip Roth, der große amerikanische Schriftsteller, sagte einmal: Das Alter ist ein Massaker. Die Akademie in Stockholm soll sich schämen, dass sie ihm noch immer nicht den Nobelpreis gegeben hat. Roth hat Recht. Im Alter stehen wir einem übermächtigen Gegner gegenüber, wir sind allein und werden immer schwächer. Dieser Gegner, die Zeit, wird immer stärker, und sie vernichtet nach und nach immer mehr von uns, ohne dass wir uns wehren können, bis er uns schließlich ganz auslöscht. Einen Vorteil sehe ich da nicht.

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Eine Antwort auf Marcel Reich-Ranicki

  1. Adelheid sagt:

    Wie Herr Reich-Ranicki altersweise verkündet, ist das Alter fürchterlich. Ist es aber auch noch fürchterlicher als das Überleben im letzten Weltkrieg (sei es als Opfer oder Täter)? Ich sage: ja. Aber das alles hätte man als Weiser ja schon vorher wissen können, vor einem späten Interview oder den üblichen Altersschmerzen, zumal keiner so viel jugendliche Literatur kennt wie R-Ranicki.

    Ich selbst bin ja 5 Jahre nach dem Weltkrieg geboren und kannte weder das große Leid noch die große Literatur (nur so etwas wie “Kasperle auf Reisen”), wusste das im Interview Gesagte aber schon mit 13 Jahren, als ich überlegte, ob ich mich nicht doch besser gleich umbringen sollte in dieser Welt. Da erkannte ich damals schon mit Schrecken: Mein Gott, man stirbt ja eh bald genug ganz von selbst. Und hoffentlich kommt der immerzu prophezeite Weltuntergang noch zu meiner Zeit, damit ich den wenigstens noch erleben kann. So einfach ist das.

    Ich hätte aber doch noch einen komplizierten Wunsch im Leben, ich würde Herrn Reich-Ranicki danken dürfen, dass er nach Deutschland zurückgekehrt ist und ihn persönlich umarmen dürfen. Ich kenne sein Buch und den Film und ich bin froh, dass es diese Dokumente gibt. Ranicki soll aber nicht jammern übers Alter, denn dass er stark blieb und nun lange leben muss, ja muss, das ist ein Zeichen.
    Ich bitte darum, dass ihm jemand das mitteilt, der näheren Kontakt zu ihm hat und ihm sagt, dass ich ihm alles Gute wünsche.
    Herzliche Grüße aus Österreich sendet Adelheid

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