Das heiligste Tabu der deutschen Literatur
„Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so unglaublich langweilig?“ fragt der wackere Randalierer Maxim Biller gestern in der Zeit. Und heute stimmt ihm Dietmar Dath in der FAZ in einer „Entgegnung“, die mit Entgegnung nichts zu tun hat, weitgehend zu. Es ist jetzt gut 20 Jahre her, dass ich über die Neigung der deutschen Gegenwartsliteratur zu gepflegter Langeweile schrieb. (zum Beispiel hier: http://uwe-wittstock.de/0000009b611323225/index.htm) Wenn Biller und Dath nun ins weitgehend gleiche Horn stoßen, müsste mir das recht sein. Ist es aber nicht. Oder nur mit dicken Einschränkungen.
Diese Einschränkungen lassen sich kurz zusammenfassen: Zum einen, sind die Gegenwartsromane (und nur von denen ist bei Biller und Dath die Rede, nicht von Lyrik, Drama oder sonstwas) inzwischen gar nicht mehr so langweilig, wie die beiden behaupten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich im deutschen Gegenwarts-Erzählen viel getan. Von Mosebach bis Kehlmann, von Wolfgang Herrndorf bis Ferdinand von Schirach, von Ingo Schulze bis Judith Hermann, von Lukas Bärfuss’ Hundert Tagen bis Eugen Ruges Zeiten des abnehmenden Lichts und Capo de Gata sind in der jüngsten Zeit eine Menge Romane und Short-Stories erschienen, denen man manches nachsagen kann, nicht aber, dass sie langweilig sind.
Zum anderen finde ich Billers Attacke seltsam, weil sie das einzig mögliche Heil für die jüngere deutsche Literatur ausschließlich aus der Feder von Schriftstellern erwartet, deren Muttersprache nicht das Deutsche ist. Da Biller selbst zunächst mit Russisch und Tschechisch aufgewachsen und erst später ins Deutsche hineingewachsen ist, glaube ich zu ahnen, wie er auf seine These verfallen ist. Aber eine überzeugende Begründung liefert er in seiner Polemik nicht, sondern setzt die These schlicht als Tatsache voraus. (Alter Taschenspielertrick.)
Wenn die deutsche Literatur heute angeblich dürftig ist, liegt das in Billers Augen daran, „dass die – wenn man so will – gesellschaftlichen und intellektuellen Produktionsmittel nach wie vor in den Händen der Autochthonen liegen. Kritiker, aber auch Verleger, Lektoren und Buchhändler sind zu 90 Prozent Deutsche. Die, als echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten, bestimmen, was gedruckt wird und wie, sie sagen, was bei Hugendubel, Thalia und Dussmann auf die alles entscheidenden Verkaufstische kommt, sie zahlen die Vorschüsse, sie verleihen die Preise, sie laden als Verleger zum Abendessen ein.“
Hier bastelt Biller an einer klassischen Verschwörungstheorie: Die Deutschen sind einfach zu blöde, um zu begreifen, was gute Literatur ist. Oder um es mit dem Kritiker Christoph Schröder zu sagen: Es ist nicht sehr wahrscheinlich, „dass ein Haufen von Nazis in deutschsprachigen Verlagen und Lektoraten die wilde, ungezähmte und wirklichkeitsnahe Migrantenliteratur verhindert“.
Billers Beschreibung der personellen Lage im deutschen Literaturbetrieb ist zwar meines Erachtens richtig: 90 Prozent der entscheidenden Literaturbetriebs-Positionen werden von – um Billers Vokabel zu benutzen – gutbürgerlichen Autochthonen besetzt. Aber was er unterschätzt, ist die Neigung, wenn nicht die Leidenschaft des intellektuellen Bürgertums zur Selbstkritik, ja zum Selbsthass. Biller tut so, als wolle das Milieu der Literaturbetriebsangehörigen nichts anders lesen als Romane, die exakt abgestimmt sind auf die Erwartungen des Literaturbetriebsangehörigenmilieus.
Das mag bei einigen der Angehörigen dieses Milieus so sein, vielleicht sogar bei einer Mehrheit davon. Aber jeder, der den Literaturbetrieb kennt, weiß, dass es gerade hier immer hoch empfindsame und neugierige Quertreiber gibt, die sich nichts sehnlicher wünschen, als Schriftsteller, die den eingeschliffenen Erwartungen des Betriebs widersprechen. Sie fallen vor jedem Nachwuchsautor auf die Knie, der etwas Neues, Unerwartetes, Widerspenstiges versucht – auch wenn dieser Nachwuchsautor ein Migrant ist. Die Opposition gegen das Kultur-Milieu ist längst fester Bestandteil des Kultur-Milieus geworden.
Meine These zur Langeweile beim Lesen deutscher Romane war vor 20 Jahren eine andere: Ich glaubte (und glaube), dass sich Verleger, Kritiker, Lektoren damals zu lange an einigen abgenutzten und normativ gewordenen Spielregeln der Moderne festgehalten hatten: Die Vorstellung, die Romanliteratur, dürfe ihr ästhetisches Glück ausschließlich bei Sprachexperimenten oder formaler Innovation suchen (was manchmal auch ganz schön ist), hielt ich für falsch. Stattdessen plädierte ich dafür, daneben genauso Romane ästhetisch gelten zu lassen, das sich von diesen erschöpften Forderungen der Moderne losmachen und wieder Anschluss suchen an ein traditionelles Erzählen. Ein Erzählen, für das Handlung, Plot, Dramaturgie wichtige (aber nicht die einzigen) Punkte der ästhetischen Überlegungen sind.
Das hat mir damals zwar eine Menge Widerspruch eingetragen, aber auch die Erfahrung, dass man im Literaturbetrieb nie alleine steht, wenn man gegen die Ansichten der Betriebs-Mehrheit aufmuckt. Gern hätte ich mich damals zum einsamen, aber aufrechten Rufer in der Wüste stilisiert – konnte aber feststellen, wie rasch ich Teil eines kleinen, anwachsenden Wüsten-Chores wurde. Heute ist, was damals zu Stürmen im Literaturbetriebs-Wasserglas führte, weitgehend selbstverständlich geworden und kann nur noch komplett geschichtsvergessenen Dogmatiker der literarischen Moderne in Erregung versetzen.
Ende der Abschweifung, zurück zu Biller und Dath: Das Heil der Literatur ausschließlich von Autoren zu erwarten, die aus einem Sprachraum in einen anderen wechselten, ist offensichtlicher Unsinn. Interessanter ist dagegen eine Beobachtung von Dath: Nämlich dass, wenn man länger mit jüngeren deutschen Schriftstellern spricht, sie kaum von deutschen Autoren als Vorbildern reden, sondern von Autoren wie „Don Winslow, Zadie Smith oder Toh EnJoe“ und außerdem von „Fernsehserien, Filmen und Platten“.
Einmal abgesehen davon, dass ich keinen Schimmer davon habe, wer Toh EnJoe ist (zugegeben, das ist mein Fehler, Wikipedia teilt mir eben mit, es sei ein japanischer Autor, der vor allem „speculativ fiction or science fiction” schreibe), teile ich Daths Beobachtung: Bei Bier oder Wein spät abends in der Kneipe wird unter Autoren, aber auch unter Kritikern und Lektoren, nicht mehr über Klassiker der Moderne gestritten, sondern von Philip Roth und Jonathan Franzen geschwärmt, von Umberto Eco und García Márquez, von den Sopranos und von House of Cards.
Bemerkenswert daran ist in meinen Augen, wie eng die Verbindung zwischen diesen Autoren und Serien zu den Formen des traditionellen Erzählens sind. Bei Genre-Büchern wie den Krimis von Don Winslow oder Genre-Serien wie Sopranos liegt die Verbindung auf der Hand. Aber auch bei den anderen genannten Autoren scheint sie mir unabweisbar: Es sind Schriftsteller, die, ohne ihre künstlerischen Intentionen und Ambitionen zu verraten, darüber nachdenken, wie sie ihre Romane so erzählen können, dass sie bei Lesern Interesse wecken. Horribile dictu: Ohne ihre ganz persönlichen künstlerischen Ziele aus den Augen zu verlieren, denken sie beim Schreiben ans Publikum!
Das scheint mir bis heute das heiligste Tabu des ambitionierten deutschen Literaturbetriebs und des Feuilletons zu verletzten: Einem Romanschriftsteller zu raten, beim Schreiben auch mal an erprobte Mittel und Tricks zu denken, mit denen er die Aufmerksamkeit seiner Leser wach halten und fesseln kann. Dabei liegt das gerade bei der Romanliteratur nahe: Keine andere der üblichen Literaturformen verlangt vom Leser, so viel Lebenszeit zu investieren, wie der Roman. Ist es da ganz falsch, wenn er vom Roman im Gegenzug erwartet, gut unterhalten zu werden? Beziehungsweise, dass er ihn beiseite legt, wenn er sich – um Biller zu zitieren – nach ein paar Seiten als „unglaublich langweilig“ erweist?
Die Polemik Billers ist hinreißend; Wittstocks Replik hingegen vernünftig. Wir erleben zur Zeit den zarten Aufbruch aus der Langeweile einer bisher maßlos “drögen” (John le Caré) deutschen Literaturszene. Auch Florian Kesslers Eingeständnis des eigenen Werdegangs ist durchweg erfrischend. Bei der Google-Eingabe “Weshalb ist die deutschsprachige Literatur so langweilig?” erhielt ich innerhalb von 0,41 Sekunden 447.000 Einträge – bevor ich die Artikel der drei Herren gelesen hatte.
“Meine These zur Langeweile beim Lesen deutscher Romane war vor 20 Jahren eine andere: Ich glaubte (und glaube), dass sich Verleger, Kritiker, Lektoren damals zu lange an einigen abgenutzten und normativ gewordenen Spielregeln der Moderne festgehalten hatten: Die Vorstellung, die Romanliteratur, dürfe ihr ästhetisches Glück ausschließlich bei Sprachexperimenten oder formaler Innovation suchen (was manchmal auch ganz schön ist), hielt ich für falsch.” – Ja, das ist einer der Punkte, vor zwanzig Jahren wäre ein Erzählgenie wie Kurzeck einfach, was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft (oder sollte ich feuilletonistische schreiben), durchgerauscht, und er ist ja auch erst relativ spät ins Bewußtsein gerückt. Und natürlich gibt es auch Schreibweisen, die sich von der Tradition verschiedener Verlagshäuser wie etwa Suhrkamp oder Schreibschulen wie etwa Leipzig oder Hildesheim herdeuten lassen. Gelegentlich war auch von Stipendiatenliteratur die Rede … Aber das ist eben nicht alles. Vermutlich orientieren sich Biller, Kessler u.a., die jetzt soviel an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu bemängeln wissen, ausschließlich am Feuilleton der großen Tageszeitungen, einschlägigen Fernseh-Literatursendungen und der Spiegel-Bestsellerliste, wo gern das präsentiert wird, was man für leicht vermarktbar hält (wobei ich nichts dagegen habe, wenn ein gutes Stück Literatur auch da reüssiert). Und dann finde ich die Beschränkung des Blicks auf Romane, und diese dann quasi als alleinvertretend für den Stand und die Qualität der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu setzen, äußerst verheerend, für die Wahrnehmung wie für den Diskurs.